
Historie vom Haus Garni Cà Stella
CH 6676 Bignasco/Vallemaggia
Vorgeschichte /Historisches
Die Cà Stella besteht aus zwei aneinander gebauten Häusern: das vordere hat die Jahreszahl 1546 und ist das älteste Gebäude hier im Dorf. Offenbar waren die damaligen Erbauer relativ wohlhabend, da das Treppenhaus und die Grösse der Fenster und Türen für die damalige Zeit recht grosszügig bemessen waren.
Irgendwann um 1900 wurde das heutige Gästehaus angebaut. Meine Recherchen aus spärlichen Quellen haben folgendes ergeben:
Ein Sohn jener Familie ist ausgewandert, wie so viele zwischen ca. 1850 und 1940. Fast jede Familie schickte den besten Sohn in die Fremde, um sein sog. Glück zu versuchen. Viele emigrierten nach Amerika oder Australien, unser hier von der Familie Begnudini war in den Niederlanden geblieben.
So hatten die meist grossen Familien einen Mund weniger zu stopfen und lebten in der Hoffnung, dass der Sohn reich zurückkäme oder wenigstens ein wenig Geld in die Heimat schicken würde, damit sie sich ein bisschen Kaffee, Salz oder Butter leisten könnten. Wer einen Kastanienbaum besass, war wohlhabend. Viele Familien lebten 7 Monate im Jahr von den Marroni in allen Varianten. Die grosse Hoffnung war auch, das Reisegeld zurückzahlen zu können, um das Pfand auszulösen, welches sie für den Vorschuss sicherstellen mussten.
Viele dieser Emigranten kamen entweder schon auf der Reise um oder wurden in der Fremde ausgenutzt, weil sie die Sprache nicht konnten. Oder sie haben den kleinen Lohn aus Einsamkeit, Heimweh oder Unwissenheit – wie das Geld heimschicken – in der vielleicht meilenweit entfernten Kneipe in Alkohol verwandelt…
Nur sehr wenige - vor allem die, welche vor Ort schon Verwandte hatten die etabliert waren – hatten Erfolg. Noch weniger von ihnen kehrten nach vielen Jahren wieder in die alte Heimat zurück.
Rückkehrer
Einer von ihnen war der Begnudini-Sohn, welcher in Holland sein Glück gemacht hatte. Er baute das heutige Gästehaus im holländischen Stil an sein altes Elternhaus an und gestaltete es aus mit grosszügigen Zimmern, geräumigem Treppenhaus, grossen Fenstern und Türen, vielen Balkonen, zwei Gewölbekellern sowie zeitgemässen Fresken in Zimmern und Gängen, als Zeichen seines Wohlstandes.
Er gründete eine Familie und hatte 5 Kinder, 3 Mädchen und 2 Jungen. Leider hatte er nicht so viel Glück mit der Familie wie mit dem Geld. Der Erzählung nach hatten die Mädchen Tuberkulose und starben jung. Die hölzerne Abtrennung im Zimmer 'melodia' (damals Wohnzimmer der Familie) wurde nachträglich eingebaut, wohl um einem kranken Kind mehr Wärme vom Kamin zu ermöglichen. Das Haus war ja schwer heizbar und die offenen Cheminées rauchten mehr als dass sie wärmten, als ich das Haus 1998 übernahm. Das war vor mehr als hundert Jahren wohl nicht anders.
Historischer Rückblick
Im Buch 'al fondo del sacco' (deutsch: Nicht Anfang und nicht Ende') von Plinio Martini, Schriftsteller und Lehrer von Cavergno, erzählt er von einem reichen Geldverleiher, der auswanderungswilligen jungen Männern das Reisegeld vorschoss. Dafür erhielt er als Pfand und Sicherheit ein Stück Land, eine Wiese, einen Stall, ein Stück Wald oder auch einen Rustico. Sogar ein altes Hotel in Bignasco oder den Palazzo daneben, damals Dépendence vom früheren Hotel
*Glacier* waren offenbar im Besitz dieser Familie.
Um die Jahrhundertwende entdeckten viele Briten und Franzosen das Bergsteigen und der Wasserfall in Bignasco – Ri Grande – mit seinen ‘Pozzi’ (Badestellen) und der Kapelle ‘Madonna da Munt’ (Madonna vom Berg) waren Anziehungspunkte für Natur-Abenteurer und Heilungssuchende.
Diese Orte sind auch heute noch Kraftplätze mit hoher Bovis-Energie, siehe auch das Buch von Claudio Andretti: Kraftplätze im Tessin
Darum entstand damals in Bignasco das ‘Hotel Glacier’ (neben dem Schul- und früheren Gemeindehaus–und daneben die später erbaute ‘Dépendance’, ein schöner Palazzo), heute beide Häuser renoviert und als Wohnhaus genutzt.
Aber zurück zur Familie Begnudini. Der letzte Sohn hatte noch seine Tiere und haushaltete alleine im alten Elternhaus, der ‘casa paterna Begnudini’, dort wo
sich heute unsere Küche, Esszimmer und oben Büro und Aufenthaltsraum befinden.
Seine Familie besass in ganz Bignasco Dutzende von Parzellen, Ställen, Rustici’s und – unter anderem – die oben erwähnten 2 Palazzi.
Es gab einige Leute im Dorf welche sich Gedanken machten, was mit all diesen Gütern geschehen sollten wenn der letzte Erbe Felice stirbt. Sie sprachen mit ihm und konnten ihn offensichtlich dazu bewegen eine Stiftung zu gründen für ‘günstigen Wohnraum für kinderreiche Familien’, die sog. ‘Fondazione Felice Begnudini. (FFB)
Da es aber heute kaum noch Familien mit vielen Kindern gibt, verkaufte die
Stiftung immer wieder Häuser oder Parzellen und renovierte damit andere Liegenschaften, die sie heute auch an ‘normale Familien’ vermietet.
Die Frage, warum dieser Familie fast halb Bignasco gehörte, beschäftigte mich.
Die Antwort fand ich im oben erwähnten Standard-Buch über das Vallemaggia von Plinio Martini.
Der alte Begnudini – also der Heimkehrer – musste der Geldausleiher für die Auswanderer gewesen sein! Und so Besitzer der vielen Pfand-Sicherheiten von nicht zurückbezahlten Reisevorschüssen!
Neuere Abenteuer-Geschichte
Als ich im November 1997 Kontakt hatte mit dem Präsidenten der Stiftung rannte ich fast offene Türen ein. Sie hatten einen Tessiner Künstler als Mieter,
welche das ganze Dorf verärgerte und dessen Vertrag im Mai 1998 auslief.
Ich hatte mich in das Haus verliebt und spielte mit dem Gedanken es zu mieten. Meine Tochter Claudia wohnte in Cavergno und wünschte sich die Mama in der Nähe.
Die Stiftung wusste aber nicht, was anfangen mit den beiden Häusern und wollte sie verkaufen. Das war für mich vorläufig keine Option – was sollte ich denn machen alleine mit 2 Häusern? Ich hatte ja keine Ahnung, ob es mir hier wohl ist und was mit den Häusern anfangen?
Wir einigten uns dann auf einen Mietvertrag mit Kaufoption nach 1,5 Jahren, da sich kein anderer Bewerber gemeldet hatte nach der offiziellen Ausschreibung.
Es war ein Sprung ins kalte Wasser! Die Ausstrahlung vom Wasserfall machte mir Mut und ich unterschrieb, ohne eine Ahnung zu haben was mich erwartete.
Immerhin machte ich zur Bedingung, ein Stück Land als Garten dazu mieten zu können, was ich dann schon im ersten Sommer bebaute.
Im Mai 1998 zog ich von Luzern nach Bignasco in ein Haus, das in den Räumen 5° Celsius hatte, zum Wärmen ging ich in den Keller, wo es immerhin 7° hatte…
Kein einziges Cheminée das mehr wärmte als rauchte im ganzen Haus…
Es war ein später Frühling, doch endlich wurde es warm, langsam auch in den Häusern und die Wälder begannen grün zu werden. Vorgängig hatte ich allen meinen Verwandten, Bekannten und FreundInnen eine Mitteilung geschickt, dass ich umziehe ins Maggiatal, dass ich auch ein paar Gästezimmer hätte und es schön sei dort zum Wandern.
Mein damaliger Partner brockte mir – nach nur einer Woche – eine böse Ueberraschung ein: eine Schulklasse mit 19 Kids, 2 Lehrern und 2 Köchinnen!!!
23 Teller, Bestecke, Betten oder Matratzen incl. Rost mussten hergezaubert und hergerichtet werden!!!
Zum Glück hatte ich bereits gesammelt und einige Zimmer mit Möbeln und Betten vollgestopft. Dabei war ich selbst noch kaum angekommen und meine Sachen eingeräumt….
U. sagte mir, die Gruppe sei tagsüber in seinem Projekt am Berg und nur zum Schlafen hier im Haus….
Schon als sie ankamen, glich der Vorplatz einem Schulhof – am liebsten hätte ich mich in ein Mauseloch verkrochen!
Es brauchte mehr als 2 Jahre, bis ich den Schock der Nachbarn relativieren konnte, indem ich möglichst nur noch leise Gäste hatte… die auch abends Rücksicht nahmen auf die schlafenden Einheimischen.
Zu meinem Erstaunen kamen aber auch andere Gäste und Gruppen, obwohl die Infrastruktur noch sehr zu wünschen übrigliess.
Dann kam ein anderer ungebetener Gast: ein Polizist! Was ist das hier? Ein Hotel? Ein Restaurant? Haben Sie eine Bewilligung? Es ist nichts angeschrieben und Sie haben mehr als 4, max 6 Gäste???!!!
Ja, braucht es das? Ja sicher! Was muss ich tun?... Zuerst kam eine Busse. Und ein Verbot, weiterhin Gäste zu haben, ohne Bewilligung. Später musste ich auch noch das Wirtepatent machen… Ja nun denn…!
Dann schickten sie mir Leute vom Tourismus-Amt, welche das Haus unter die Lupe nahmen und bestätigten, dass es sich als ‘Garni’ eignen würde. Ich bekäme sogar Darlehen der Tourismus-Förderung…
Nur ‘ein paar Anpassungen’ seien nötig, wie z.B.
-
In jedem Zimmer ein Lavabo mit k. + w. Wasser
-
Sanierung/Ergänzung der elektrischen Installationen
-
Feueralarmanlage m. eig. Hydrant, feuersichere Türen, Rauchmelder,
-
Blitzableiter-Anlage, direkte Ueberwachung + Leitung zur Feuerwehr
Natürlich wusste ich, dass noch andere Anpassungen nötig wären, sollte ich es als Gästehaus nutzen wollen, wie:
-
Vorfenster vor die alten, einfach verglasten Fenster
-
eine zentrale Heizungs–Anlage
-
Aufstockung der 3 WC’s u.2 Duschen (jetzt 9 WC’s, 7 Duschen)
-
Modernisierung der Küche
-
ein Kachelofen im Ess-Stübli (war keine Heizung mehr vorhanden)
-
Sanierung aller Kamine durch Einzug von Stahlrohren und Isolation
-
Erneuerung des 450-jährigen undichten Daches am alten Hausteil
-
und, und, und???
Nun bin ich seit 24 Jahren am Erneuern, Verbessern, Optimieren…. (2022)
Ohne alle diese Ein- und Umbauten hätte ich keine Gäste mehr beherbergen dürfen. Aber was sonst machen mit diesen Häusern und diesen Kosten?
Ausserdem gehörte das Haus ja gar noch nicht mir – und die Stiftung hatte kein
Interesse, diese Investitionen zu tätigen – d.h. ich musste das Haus vorzeitig
kaufen.
Mit vielen grösseren und kleineren Krediten von meinem Freundeskreis, Verwandten, der Tourismus-Förderung und dem Hotel-Kredit sowie dem gestaffelten Kaufpreis der FFB waren die Finanzierung vom Kauf und der Ausbau in relativ kurzer Zeit sichergestellt – der Umbau konnte beginnen!
Dank grosser Eigenleistung (ich war ja Baufrau seit 25 Jahren) und der Mithilfe von Freunden und Familie wurde ab 1999 bis 2001 der Grundstein gelegt, um die *ca’ stella* in einen öffentlich anerkannten Gästebetrieb zu verwandeln.
Auch der grosse Schuldenberg konnte – unter anderem durch meinen Verzicht auf ein persönliches Salär – kontinuierlich abgebaut werden.
Leider war ich ungefähr ein Jahr zu früh dran, was schmerzt: die kantonalen Darlehen muss ich immer noch zurückzahlen, während 1 Jahr später alle anderen die Beiträge ‘à fonds perdu’ erhielten, d.h. als nicht rückzahlbare Subventionen!
Nun ist die Zeit reif, nach 25 Jahren Herzblut und Gratisarbeit die Zukunft vom
‘Sternenhaus’ abzusichern und in neue, jüngere Hände zu übergeben: für die
Erhaltung als Gästehaus für die dankbaren und wunderbaren Menschen, die hier Erholung, Inspiration und Naturverbundenheit finden; für die Erhaltung von Arbeitsplätzen im Haus und im Tal; für die einmalige, historische Infrastruktur der *ca’ stella* im ‘Magischen Tal’ und das besondere ‘ambiente’
Danke euch allen, die Ihr dieses Projekt ermöglicht und mit tragt!
In herzlicher Verbundenheit –
Eure Helia Blocher
